Hören, Erinnerungen und Gefühle

Alles was wir je gehört haben, prägt uns mehr als wir denken. Aktuelle Hörerfahrungen gleichen wir mit bereits erfahrenen ab und beeinflussen damit unsere Interpretation und Wahrnehmung, bewusst oder unbewusst. Prägende Erlebnisse sind oft von einer bestimmten Hörerfahrung begleitet und können uns für Zukünftiges beeinflussen.

Sicher haben Sie schon mal gegoogelt, wie ein Gehör funktioniert (wenn nicht, tun Sie’s jetzt), deshalb will ich es hier nicht wiederholen.
Haben Sie nicht auch gestaunt, wie aus diesen Luftdruckschwankungen, die ein paar physische Teilchen -erst noch in Miniaturformat- in einem Ohr in Bewegung bringen und -daraus übersetzt- als elektrische Impulse ans Gehirn gelangen, so was wie dieses unglaublich differenzierte Hören werden kann?
Ich meine, wir hören nicht einfach irgendwas, wir wissen (im Idealfall) genau was oder wer woher ertönt, ob es uns was angeht, ob es dringend oder optional ist, uns wohlgesinnt oder gefährlich ist, wie die Laune/der Zustand des Lautgebers ist, die Entfernung zu uns etc.
Es ist eine Fülle an Informationen, die das reine Hören bei weitem übersteigen.

Wenn wir neu sind auf der Welt, ist das noch nicht so. Wir LERNEN das fortlaufend.
Dafür speichern wir eine Riesenmenge an Daten (Erfahrungen) ab und erst der Abgleich mit diesen -in Bruchteilen von Sekunden- ermöglicht uns eine klare Zuordnung des eben Gehörten.

Damit ist auch klar, dass wir -wie in anderen Bereichen auch- entsprechend unseren bisherigen Erfahrungen bewerten und danach filtern.
Filtern aber ist klar eine Selektion, eine Wahl – ob nun bewusst oder unbewusst: wir hören also längst nicht alles, sondern nur, was wir -willig oder unwillig- zulassen (können).
Da unser Gehör nonstop die Umgebung abscannt nach für uns Relevantem, ist ein Filtern für unsere psychische Gesundheit geradezu essentiell. Wir können uns nicht dauernd mit allem befassen.

Zusätzlich filtern und bewerten wir aber auch nach subjektiv-prägender Erfahrung: deren Stimme mag ich nicht, am Bahnhof versteh ich eh nix, jedes laute Geräusch macht krank, das Geräusch der Heizung hält mich schlaflos, der Nachbar quält mich absichtlich mit seinem Laubbläser etc.

Aber auch, bei diesem Musikstück war ich sooo verliebt, diese Filmmusik verleiht mir Flügel oder Tarzankräfte, das Rauschen des Wasserfalls lässt mich durchatmen, das Miauen meines Büsi erfüllt mich mit Zärtlichkeit, das fröhliche Kinderlachen gibt mir Auftrieb, das Geräusch von Wellengang ist wie Ferien etc.

Dass auch traumatische oder tief verletzende Ereignisse uns oft über das Ohr erreichen, ist relativ wahrscheinlich.
Fast immer sind Geräusche oder gar Worte im Spiel bei solchen Ereignissen: ich verlasse Dich jetzt, aus Dir wird nichts, ich mag dich nicht, leider muss ich Sie entlassen, Ihre Prognose ist leider nicht erfreulich etc.
Oder das Grollen des Donners, die Panzer auf Übungsfahrt, die Zugbremsen etc.

Gut möglich, dass beides gleichzeitig zutraf: dass zu Worten im Hintergrund auch noch grad eine bestimmte Musik lief, der Regen hörbar aufs Fensterbrett prasselte, ein Hund bellte, ein Kind weinte, eine Tür geschletzt wurde, auf den Tisch gehauen wurde, jemand vor Angst geschrien hat.

Ich -als Beispiel- wurde vor mehr als 40 Jahren von einer Meute unbegleiteter Hunde angegriffen. Seither gefriert mir noch immer -trotz der klaren Erinnerung an den guten Ausgang der Geschichte- jede einzelne Körperzelle, wenn ich Hundekläffen aus unsichtbarer Ecke höre. Wenn es dazu noch Winter ist (wie damals), umso heftiger.
Seither sind Hunderte von Hundebegegnungen gut verlaufen, diese eine bleibt prägend und ich möchte dieses unerwartete, überfallsartige Knurren nie mehr hören müssen….

So wäre zum Beispiel absolut nachvollziehbar, dass -wenn etwas sehr bedrohlich wirkte, über alle Masse unerträglich oder für jemanden absolut existenziell war- Individuen bestimmte -damit verbundene- Frequenzen einfach ausblenden. Sie gar nicht mehr hören können. Und damit die (aktive) Erinnerung daran mitlöschen.
Oder im Gegenteil -wie ich im Beispiel oben- vollkommen dünnhäutig und überempfindlich auf sie reagieren.
Dass uns Geräusche, eine Stimme oder eine Wortwahl manchmal triggern, ohne dass wir -geschweige denn Unbeteiligte- das nachvollziehen können.

Dabei ist es nicht der «objektiv» bewertbare Tatbestand, der entscheidend ist, sondern unsere Gefühle (von damals) dazu: unser Ausgeliefert-Sein, unser Überfordert-Sein, unser Alleingelassen-Sein etc.

Manchmal kommen im Hologramm der Naturschallwandler solche Erinnerungen in aller Klarheit hoch. Werden dadurch bewusst und können abgelegt werden.
Das sind sehr berührende und befreiende Momente.

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